Heute ist wieder so ein Tag. Der innere Boden trägt nicht. Es tut sich ein Loch auf, das meine, ach so mühsam errungenen Gewissheiten von gestern einzeln oder gleich gruppenweise in sich hineinsaugt und vernichtet. Diese Vernichtung geschieht so leise und unspektakulär, so dass ich kaum merke, wie tröstliche Gedanken sich auflösen, andere kommen und wieder gehen und einzig das unersättliche Loch als flaues Gefühl in der Magengegend wartet. Wahrscheinlich hätte ich zu Hause bleiben sollen. Es ist kein guter Moment mich der Stadt auszusetzen.
Überall sehe ich arbeitende, nützliche und wertvolle Menschen, die so viel besser und kraftvoller sind als ich. Ich spüre den unwiderstehlichen Impuls mich auf der Stelle hinzulegen und nur noch einzuschlafen, nie mehr aufzustehen und nie mehr auch nur einen Blick auf meine elende Situation zu werfen. Alle, die mit fokussiertem Blick an mir vorbeigehen, führen ein erfülltes Leben und ich bin auf dem Weg in einen müßigen, unwichtigen und absolut bedeutungslosen Tag. Keiner der Vorbeigehenden fühlt sich überflüssig und neben der Spur, keiner verpasst an diesem Nachmittag seine Bestimmung, nur weil er zu faul ist, sich um seine Zukunft zu kümmern.
Es gibt keinen Unterschied zwischen mir und dem Obdachlosen, der eben einen Mülleimer untersucht. Wir sind beide aus dem System gefallen. Der ominöse Zwischenraum, der über „sein“ oder „nicht sein“ in der Welt der Erfolgreichen entscheidet, ist nur noch ein Hauch, der keine Klarheit mehr herstellt. Alles verschwimmt. Die Lücken zwischen mir und einem dieser Tüchtigen, die mit offenen Hemden dem nächsten Termin entgegenschreiten, sind unüberbrückbar geworden, doch sie sind nicht nur da draußen zwischen mir und den anderen, sondern auch in mir. Aus dem inneren Abgrund weht mich ein kalter Wind an und ich werde mich hüten auch nur einen Schritt näher zu gehen. Die Energischen und Starken, sind heute überall, während die Kranken, die Arbeitslosen und die Unglücklichen nirgends zu sehen sind. Einen sehe ich, da drüben, aber das ich auch alles. Wahrscheinlich verschwinden sie, wenn sie noch können, in der trügerischen Sicherheit ihrer privaten vier Wände.
Ich halte kurz inne, schaue ins wuselnde Dach aus Lindenblättern über mir. Grüne Beweglichkeit in allen Variationen, Lichtblitze abgelenkter Sonnenstrahlen. Das perfekte Zusammenspiel. Mein defizitäres Ich hält diese Lebendigkeit kaum aus, will nur noch weg hier. Instinktiv senke ich den Blick auf meine staubigen Schuhspitzen und gehe weiter. Der Obdachlose zieht eine Pfandflasche aus dem Mülleimer, schüttet den Restinhalt aufs Pflaster und wendet sich ab. Während ich die Straße überquere, überwuchert meine innere Trostlosigkeit die letzten Bastionen von Leichtigkeit und Freude. Wollüstig wühlt mein zerrüttetes Selbst in altem Müll, der seit ewigen Zeiten in mir rumliegt, als gäbe es nichts Besseres zu tun, eine Kellerratte, die dort Nahrung sucht, wo es so richtig stinkt, weil sie aus Erfahrung weiß, dass es an dunklen Orten reichlich zu fressen gibt. Es kommt ihr nicht in den Sinn, dass nährendes Futter auch an einem anderen, einem freundlicheren Ort zu haben wäre. Endlich kommt sie aus ihrem Versteck, denke ich, die struppige Ratte der alten Gewohnheiten mit ihrem glasigen, unruhigen Blick, doch heute ertrage ich sie nicht, wende mich ab. Sie trottet mir lustlos hinterher.
Sämtliche kreativen Impulse, die meiner Bedrängnis normalerweise Luft verschaffen, sind weg, ebenso die Hoffnung auf Besserung und eine Ahnung des Leichten. Alles ist schwer, struppig und anstrengend. Beinahe wäre ich über das Fahrradskelett gestolpert, das seit Jahren an denselben Pfahl gekettet lautlos vor sich hin rostet. Ich weiche aus, kicke eine leere Red Bull Dose vom Gehsteig. Das Scheppern erstickt unter einem geparkten Auto und dieser Tag droht ungenutzt im Sand zu verlaufen. Zeit versickert einfach so, als ob es nichts Wichtiges zu tun gäbe und ich es mir erlauben könnte, spazieren zu gehen. Mein Rechner hatte sich vom letzten Absturz noch nicht erholt. Seit ich die Bank gewechselt habe, ist irgendwie die Verbindungen zu meinem Geld unterbrochen und im Garten wartete der Abwassertank auf eine Entleerung. Mit jedem Schritt wühle ich mich tiefer in eine ungemütliche Trostlosigkeit, die auch mit einem halbwegs positiven Gedanken nicht zu vertreiben ist. Schau doch wie die Sonne scheint. Was hilft mir denn die Sonne? denke ich, die saugt mir den Abwassertank auch nicht aus. Es gibt Menschen, denen geht es viel schlechter als dir, versuche ich es noch einmal. Eigentlich kannst du dankbar sein für alle Gaben die dir geschenkt wurden. Alles nicht hilfreich, nicht in diesem Moment. Die struppige Ratte schüttelt sich, schwankt kurz, als würde sie unter der Wucht unserer Probleme einknicken, dann trippelt sie weiter, bleibt mir auf den Fersen.
Manchmal, in den wenigen klaren Momenten, die mir heute geschenkt sind, erkenne ich, wie das „defizitäre Ich“ in mir unerbittlich Regie führt, wie es alles regelt, erst die Gedanken zum „unglücklich werden“, dann andere Gedanken, um im beschworenen Unglück nicht zu versaufen. Erst ein Gefühl der Wertlosigkeit und dann der Aufbau eines minimalen Selbstwerts, um irgendwie weiterzumachen. Schon nach wenigen Minuten komme ich mir vor, wie nach einem Sturm, ein Überlebender, der sich mit letzter Kraft an einer Holzplanke festhält. Mehrmals in die Hölle und zurück an einem Nachmittag, das hält kein Mensch lange aus.
Und trotzdem, na ja, die Hoffnung besteht immerhin darin, dass jeder dieser unerquicklichen Gänge zu den eigenen Abgründen die Funktionsweise dieses Ichs etwas klarer macht. Die Tür zum Weinladen steht offen. Ich könnte mich wieder mal betrinken, ist schon lange her seit dem letzten Mal. Für einige Stunden nichts denken und langsam und genüsslich einen teuren Burgunder in mich hineinschütten, aber wer schafft das schon, einige Stunden nichts zu denken. Eine Reise ins eigene Innere ist im Grunde genommen beinharte Arbeit, die niemand sieht, die auch kein Geld bringt.
Während ich mein Lieblingscafé ansteuere, taucht Hilfe auf. Herakles steht da und Dogen, der weise Zen-Meister.
„Zen zu studieren, heißt das Ich zu studieren.“ Die Erinnerung klingt leise in meinem rechten Ohr nach. Natürlich hat er recht. Selbstverständlich. Dogen hat immer recht, aber ich möchte ihn nicht hören, nicht heute. Ich vertrage ihn kaum, wenn es mir gut geht, aber heute, an diesem bodenlosen Tag wäre mir Dornröschen oder Schneewittchen wesentlich lieber. Seine Worte sind, verdammt noch mal, Sprengstoff, um sämtliche mir vertraute Welten in die Luft zu jagen. Mein Ich lässt sich nicht einfach so studieren, wie ein Schulbuch in der dritten Klasse oder die Gebrauchsanweisung eines neuen Kühlschranks. Es benimmt sich wie ein wilder Stier, den ich bei den Hörnern fassen soll. Während ich mir einen Espresso bestelle und tritt Herakles aus dem Hintergrund und legt mir die Hand auf die linke Schulter.
Weltverändernde Taten, mein Lieber, sind Göttern oder Halbgöttern vorbehalten. Das Ich zu studieren, bedeutet nichts anderes, als in die Hölle hinunterzusteigen wie einst Orpheus, ein guter Freund von mir aus alten Tagen oder nimm meinen Kampf mit der neunköpfigen Hydra von damals, als ich meine Taten vollbracht. Dein Ich, mein Lieber, gleicht der Wasserschlage von Lerna. Schlägst du ihm einen Kopf ab, so wachsen gleich zwei neue nach. Das Ungeheuer, das des Nachts in deinen Albträumen, friedliche Viehherden zerreißt und Felder verwüstet, lässt keinen Stein auf dem anderen. Als Normalsterblicher solltest du die Finger davon lassen. Köpfe abschlagen allein hilft nicht.
Soll ich mich ducken, verstecken und sein Spiel mitspielen?, frage ich. Das Ungeheuer ist unersättlich und kümmert sich um keines meiner Friedensangebote. Nur ein Halbgott wie du kann sein Ich besiegen.
Ich war ja nicht allein. Herkules grinst übers ganze Gesicht.
Die Besitzerin des Cafés bringt meinen Espresso, heiß, mit einem Glas Leitungswasser dazu.
Mein Neffe Iolaos kam mir zu Hilfe. Mit Feuer hat er die Stümpfe der abgeschlagenen Köpfe ausgebrannt, damit sie nicht mehr nachwachsen konnten. Den letzten, den zentralen und unsterblichen Kopf, einige nennen es den Ich-Gedanken, haben wir am Wegrand begraben und mit einem Felsen beschwert.
Wie soll man Dämonen besiegen, wenn man kein Halbgott ist? frage ich.
Es bleibt dir nichts anderes übrig, als dieses Abenteuer zu Ende zu bringen, mein Lieber, jetzt, nachdem du die alles entscheidende Frage gestellt hast. Wer bin ich? fragt sich so leicht, doch die Auswirkungen sind beträchtlich. Es hallt in der Unterwelt, wo die Schlage schläft. Das Ungeheuer hebt schnuppernd den Kopf. Es riecht Menschenfleisch. Herakles lässt meine Schulter los.
Der Espresso ist heute besonders stark und dazu gibt es schwarze Schokolade. In der Berliner Zeitung wird auf der letzten Seite Juliette Binoche zitiert: „Du kannst nicht immer 20 sein“, sagt sie „und das ist auch gut so.“ Berührt mich irgendwie, weiß aber nicht wieso, muss etwas mit Sterblichkeit zu tun haben. Ich stehe auf, werfe mir den Rucksack auf den Rücken und gehe den gleichen Weg zurück, den ich gekommen bin. Ich weiß, Herakles hat recht. Bedrohte Selbstbilder, an die ich ein Leben lang geglaubt habe, können wie Ungeheuer wüten, mit ihren Schwänzen und Klauen alle vermeintlichen Sicherheiten kurz und klein schlagen.
Mit dem Feuer der Erkenntnis musst du die abgeschlagenen Köpfe ausbrennen, flüstert Herakles und der letzte, der unsterbliche Kopf, ist dein eingebildetes Ich, an das du glaubst. Begrabe es am Wegrand und beschwere es mit einem Stein auf dem geschrieben steht: Nicht anfassen und ruhen lassen.
Während ich unter dem Lindenbaum beim Arnswalder Platz kurz innehalte, fällt mir auf, dass die struppige Ratte weg ist, einfach verschwunden und mit ihr der ganze alte Müll. Ich hatte ihren Abgang nicht bemerkt und plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob sie überhaupt existiert hat. Sie ist doch die ganze Zeit hinter mir her getrottet, als ich vor genau einer Stunde hier vorbei kam. Herakles, denke ich, wahrscheinlich hat er als Zugabe auch gleich noch den Stall des Augias ausgemistet und meinen alten Mist mitgenommen. Ich schaue mich um. Vom Stierbrunnen her kommt er auf mich zu. Er sieht älter aus als kurz zuvor im Café, trägt einen weißen Bart, ein dunkelblaues Hawaiihemd mit Tropenmuster und als er an mir vorbei geht, hebt er lächelnd zwei Finger an die Krempe seines Panamahutes. Ich widerstehe dem Impuls dem Mann um den Hals zu fallen. Herakles hat seine Arbeit gut gemacht und Dank verdient, aber das ginge nun wirklich zu weit. Ich kann doch nicht mitten auf der Straße wildfremde Menschen umarmen. Lächeln geht. Der Wind rauscht in den Blättern. Vielleicht ist dieses Lächeln eben angekommen. Über Jahrtausende hinweg, wer weiß, bei Herakles ist alles möglich. Was ist schon Zeit und was die Welt? Am liebsten würde ich tanzen, ich mit mir, doch was würden die Leute denken, wenn da einer tanzt, einfach so, an einem ganz gewöhnlichen Nachmittag?