Er geht von der Straße ab und folgt der breiten Spur in den Wald und ich folge ihm mit einem Schritt Abstand. Profilspuren von schweren Maschinen ziehen sich durch das Unterholz. Der Regen von gestern hat die festgefahrene Erde etwas aufgeweicht. Er balanciert vor mir über geschundene Äste, hüpft über Pfützen, rutscht auf morastigem Untergrund aus und schon nach wenigen Schritten wird ihm klar, dass er da nicht mit sauberen Schuhen durchkommen wird.
Er bleibt stehen. Jetzt könnte er noch umkehren und die schönen Schuhe schonen. Er schaut nach hinten, kratzt sich am Kopf. Von der Stadt her sind Kirchenglocken zu hören. Es ist Samstag und wahrscheinlich läuten die Glocken den Feierabend ein. Die Menschen können sich auf ein freies Wochenende freuen. Die Laubbäume sind noch leer und stehen irgendwie verloren neben der breiten Spur. Es wird nicht mehr lange dauern bis die ersten zarten Blätter erscheinen. In den weiter entfernten Bäumen sind einzelne Vogelstimmen zu hören. Er kennt sich mit Vogelstimmen nicht gut aus, aber dennoch hört es sie gern, denn ein Wald im Frühling ohne Vogelstimmen, wäre für ihn wie eine Ansammlung von Bäumen denen etwas Essentielles fehlt.
Am Bach, wo er wohnt, wächst bereits seit einer Woche der Bärlauch. Heute wird es Pesto zu den Spagetti geben. Vorsichtig folgt er der Spur quer durch den Wald. Er sucht Halt auf einem Bündel geschundener Äste. An tieferen Stellen hat sich Regenwasser, das nicht mehr versickern konnte, zu Pfützen gesammelt. Die schweren Wald-Ernte-Maschinen haben den Boden hart und undurchlässig gemacht. Er muss aufpassen, wo er hintritt. Ein Stamm, ungefähr so dick wie sein Oberschenkel und so hoch wie ein kleines Haus, steht aufrecht neben der tiefen Fahrrinne. Der obere Teil ist abgebrochen, die Rinde großflächig verletzt und die meisten Äste weggerissen. Wird die Esche, denn um eine solche handelt es sich wohl, an den wenigen Ästen, die ihr geblieben sind, noch einmal frische Blätter austreiben? Wahrscheinlich schon. Er wird in einem Monat noch einmal kommen und nachsehen, weil es ihn interessiert, wie dieser Baum mit seiner Verletzung umgegangen ist. Ich schiebe ihn leicht von hinten, doch er bleibt stehen, schaut hoch in die Wipfel der hohen Buchen. Was würden diese Buchen wohl antworten, wenn sie nach den letzten Wochen befragt würden? Wie haben sie die Baumernte überstanden. Sie stehen da, als wäre nichts passiert. Vielleicht drückt sie der Schuh, weil die Erde über ihren Wurzeln enger und dichter geworden ist. Du hast dir vorgenommen, nicht mehr wütend zu werden, flüstere ich ihm zu. Stehe nicht hier rum, geh durch und dann ist gut. Die hohen Buchen scheinen auf eine seltsame Art unbeteiligt. Einen Schritt weit von der Spur entfernt blühen erste Buschwindröschen.
Ich gehe vorne weg, damit er mir folgen kann, warte schon auf ihn, als er endlich die Spur verlässt und über eine Pfütze auf den Waldweg springt. Geschafft! Am Wegrand liegen die geernteten Stämme auf hohen Stapeln, die dicken Stämme von den dünneren, die geraden von den krummen und die reinholzigen von den knorrigen getrennt.
Die Spur wird wieder zuwachsen und in ein paar Jahren hat die Natur die Wunde verschlossen. Komm, wir gehen. Die Fahrrinnen werden als Narbe noch einige Jahre sichtbar bleiben, doch der Wald wird sich schneller als erwartet erholen. Es ist wichtig den Wald zu bewirtschaften. Die Zeit heilt alle Wunden und letzten Endes hat der Wald als Ganzes überlebt und wird weiter bestehen und die gefallenen großen Bäume machen Platz für die kleineren, die in ihrem Schatten standen. Komm, siehst du am Waldrand den blühenden Schwarzdorn. Stur bleibt er auf dem Kiesweg stehen, dreht sich um und schaut zurück. Jetzt bloß nicht denken, jetzt bloß nicht fühlen, jetzt bloß nicht zurückschauen. Vorwärts, nach Hause. Schon bald ist Essenszeit. Ich schaue ihm zu wie er mit der Schuhspitze einen in die Erde versunkenen Tannzapfen befreit. Leicht nach vorne gebeugt steht er da, als müsse er etwas zurückhalten, als müsse er sich auf diesen Tannzapfen direkt vor seinen Füßen konzentrieren. Vor drei Wochen hatte er nach einem hitzigen Gespräch, das im Streit geendet hatte, beschlossen, sich nicht mehr zu ärgern, weil Ärger nur weitere Probleme schafft. Um ein Teil der Lösung und nicht Teil des Problems zu sein, hatte er deshalb beschlossen sich nicht mehr zu ärgern. Er schaut sich um, wischt schnell eine Träne weg. Niemand hat gesehen, dass er weint. Er sollte jetzt weg hier, den Blick auf die Buschwindröschen richten, auf das kurz vor dem Blühen stehende Scharbockskraut. Ja, genau. Erinnere dich an deinen Vorsatz und dreh dich endlich um. Geh nach Hause und erinnere dich daran, dass du Teil der Lösung sein wolltest. Die alte Wut kocht in ihm. Er kann sich nicht einfach umdrehen und gehen. Es ist, als nagelte sie ihn hier fest. Er hebt den Blick, schaut auf die Spur mit den gequetschten, geschundenen und zersplitterten Ästen, der aufgerissenen Erde und dem abgeknickten Jungwuchs, die sich quer durch ein zuvor intaktes Stück Wald zieht. Krieg, denkt er, obwohl er sich diese Gedanken verboten hatte, da sie nichts bringen und keine Lösung für irgendwas sind. Hier wurde vor nicht allzu langer Zeit Krieg geführt. Forstarbeiter wurden ausgeschickt um Beute zu machen. Wie Soldaten machten sie die wertvollen Hölzer nieder, kümmerten sich nicht um die schreienden Kinder, die verwüsteten Felder und das Elend, das sie hinterließen. Hauptsache, viel Ertrag mit möglichst wenig Aufwand. Der Wald wird sich erholen, aber warum sehen die Menschen nicht, was sie tun? Jetzt nur nicht heulen, denkt er. Das kommt nicht gut, reißt alte Wunden auf, zeigt als Spiegel, wie er mit sich selber umgeht. Oft fühlt er sich wund und aufgerissen wie dieses Stück Wald. Er versuchte dieses Gefühl zu vermeiden, logisch, aber dieser misshandelte Wald ist er und darum kann er seinen Blick nicht abwenden. Möglichst viel Ertrag mit wenig Aufwand. Doch der Preis ist zu hoch. Er atmet tief ein und aus. Komm, es ist jetzt genug, flüstere ich ihm zu. Er weiß, dass er sein Inneres hier liegen sieht und deshalb will er nicht mehr hinschauen, doch er muss, denn diese Verwüstung hat direkt mit der Lebendigkeit zu tun, nach der er sucht. Indem er lernt hinzuschauen ohne wütend zu werden, indem er lernt seine innere Verwüstung anzuschauen, seine Traurigkeit zu spüren ohne wegzurennen, kann etwas Totes lebendig werden. Er weint, schluchzt, sucht nach einem frischen Taschentuch. Ein Mann mit Hund geht vorbei, schaut zurück. Muss man hier helfen. Geht’s ihm nicht gut. Er zerrt den Hund weiter. Zu Hause wartet wahrscheinlich die Frau mit dem Abendessen.
Bevor ein Soldat töten kann, muss er lernen, Feinde zu Objekten zu machen, die einem höheren Ziel im Weg stehen. Er schießt auf Ziele und weiß, dass er selber ein Ziel ist. Das ist seine Form von Ausgleich und Gerechtigkeit. Sein Leben gegen das des andern, ein hoher Preis. Doch welchen Preis zahlen wir, die wir in keinem Krieg kämpfen, die wir bloß an Waldrändern stehen und uns ansehen, wie Bäume geschändet wurden? Welchen Preis zahlen Waldarbeiter, die gelernt haben unfallfrei mit Kettensägen umzugehen? Welchen Preis zahlen Spezialisten, die aus dem sicheren Bunker Drohnen mit tödlicher Fracht auf feindliche Ziele steuern? Ich tippe ihm leicht auf die Schulter, ermahne ihn, geh nach Hause, das Essen wartet. Du hast für heute genug gesehen. Lass das Denken und geh nach Hause.