Ein dunkelbrauner Tropfen platschte in die Pfütze zwischen seinen Winterschuhen. Er saß da und schaute zu. Sein einziger Reflex hatte darin bestanden, den linken Fuß zurückzuziehen, um ihn rechtzeitig vor dem unaufhaltsamen Kaffeesturz in Sicherheit zu bringen. Unglück übte diesen eigenartigen Zauber auf ihn aus, als würde plötzlich die Zeit stillstehen, wenn Becher umkippten oder Häuser brannten. Während andere rannten und wischten, schaute er zu und bedachte die Folgen.
Der Rand der Zeitung hatte wohl den Pappbecher aus der Balance gebracht und nun lief der gesamte Inhalt vom Tisch auf den Boden. Die schwarze Pfütze sah auf dem weißen Fliesenboden irgendwie ungesund und versifft aus. Während die herbeigeilte Angestellte auf und unter dem Tisch wischte, dachte er an die Wohnung in der Hufelandstrasse, die er in den zwei verbleibenden Tagen auf einen substanziell höheren Sauberkeitslevel würde bringen müssen. Schon der Gedanke an das bevorstehende Staubsaugen und Wischen raubte ihm sämtliche Energie.
Francine kam nun doch früher als geplant, schon am Montagmorgen, aus New York zurück. Die Frau seines Lebens, seine Prinzessin, die er seit Kindergartenzeiten kannte und die nach ihrer Scheidung vor einem Jahr endlich zu ihm gezogen war. Er würde ihr einen würdigen Empfang bereiten, nach allem, was sie durchgemacht hatte. Er würde ihren schweren Koffer über Kopfsteinpflaster und Gehsteige nach Hause zu ziehen, würde heißen Kaffee und Rühreier mit Kräutern kochen, ihr sämtliche Wünsche von den Lippen ablesen. In New York war nicht alles so gelaufen, wie geplant, doch er würde sie aufheitern und auf neue Gedanken bringen. Die schwere Zeit, die vielen Rückschläge, die nutzlosen Versuche ihre Ledertaschen bei einer großen Warenhauskette unterzubringen, die Sitzungen und das Warten vor Türen wichtiger Entscheidungsträger, würde bald vergessen sein. Drei Wochen hatte er ihr Ringen um eine Marktzulassung aus der Ferne mitverfolgt, hatte Ermutigungen durch den Äther nach New York geschickt und übermorgen würde das ganze Leiden zu Ende sein. Um acht Uhr morgens sollte ihr Flug planmäßig in Berlin Tegel eintreffen. Beim letzten Anruf klang ihre Stimme müde und irritierend tonlos, als hätte sie nicht nur ihr Amerikaprojekt, sondern gleich alle Hoffnung aufgegeben.
Sein Zeitplan stand seit Tagen fest. Landung um acht, dann TXL-Bus von Tegel bis Beusselstraße und von da mit der S-Bahn bis Greifswalder, wo er leichten Schrittes die Treppe hochfedern, zum rechten Zeitpunkt auf dem Bahnsteig stehen und sie mit Blumen und offenen Armen empfangen würde. Zuvor würde er Brötchen holen, vielleicht sogar einen kurzen Kaffee in seiner Lieblingsbäckerei trinken, Blumen besorgen und gemütlich zur S-Bahn spazieren. Vom New Yorker Flughafen hatte Francine die Nachricht geschickt, dass die Berliner Verkehrsbetriebe am Tag ihrer Ankunft einen Warnstreik angekündigt hatten. Wahnsinn, die neue Technik, dachte er. Die wissen in Amerika, dass in Berlin gestreikt wird, noch bevor ich davon Wind gekriegt habe.
Am Montagmorgen, sein Wecker hatte ihn irgendwie nicht geweckt, sprang er kurz vor acht aus dem Bett. Eigentlich wollte er sich schon am Vortag genauer über den Streik informieren, doch dann war es doch zu spät geworden und im Kühlschrank fehlte Milch. Das ging auf gar keinen Fall. Ohne aufgeschäumte Milch war das geplante Frühstück schon jetzt eine Katastrophe. Cappuccino ohne Milch, ein Alptraum und nun fehlte tatsächlich die Zeit sich über den Streik zu informieren. Vier vor acht, auf dem Weg zur Bäckerei, klingelte sein Telefon.
„Ich bin noch im Flugzeug. Eben wurde gemeldet, dass die Bußfahrer streiken. Es fahren keine Busse.“
„Kein Problem“, sagte er mit ruhiger Stimme, richtete sich etwas auf und schaltete im Bruchteil einer Sekunde auf den Notfallplan um.
„Ich hole dich vom Flughafen ab.“
Der schwarze Hengst tänzelt und schnaubt, ist bereit sich mit fliegenden Haaren ins Abenteuer zu stürzen und die Prinzessin in Windeseile aus den Klauen des Bösen zu befreien.
Noch bevor Francine etwas erwidern konnte, hatte er aufgelegt. Nun musste alles schnell gehen. Zuerst Brötchen, dann Milch, dann Autoschlüssel, dann los. Die Blumen mussten warten. Er beschleunigte, doch es reichte trotzdem nicht bei Grün über die Straße. Das stinkende Vorbeiflitzen nahm kein Ende. Normalerweise schaffte er es mit dem Auto in vierzig Minuten zum Flughafen, plus zehn Minuten für die Brötchen, sieben für die Milch. Das sollte reichen.
Die Einkäufe hatten dann doch etwas länger gedauert, als geplant, doch nun wählte er, um wertvolle Sekunden zu sparen, eine geschickte Umfahrung, trickste die erste Ampel aus, fuhr in falscher Richtung durch eine Einbahnstraße und preschte los. Er fädelte sich an einem großen Laster vorbei, fand eine Lücke auf der zweiten Fahrbahn, schlängelte sich hellwach an trägen Trödlern vorbei und gewann wieder zehn Meter. Gartenstraße, Chausseestraße.
Je mehr Autos sich vor ihm stauten, desto mehr Adrenalin pumpte seine Nebenniere ins Blut. Die Ampel war doch längst auf grün. Warum bewegte sich denn keiner? Rot. Verdammt. Wieder grün. Niemand fuhr los. Dann endlich, wenige Meter, fünfzehn vielleicht. Nein! Die Kreuzung am Weddingplatz sah für lange Zeit unpassierbar aus. Es gab keinen anderen Weg. Er musste da durch. Schwitzend riss er die Wollmütze vom Kopf, warf den Schal auf den Beifahrersitz. Mehrere Polizeiautos, ein Einsatzwagen der Feuerwehr und Blaulichtgewitter über unentwirrbar ineinander verschachtelten Personenwagen. Ein Notsanitäter beugte sich über eine Wärmedecke unter der jemand lag. Auf dem Beifahrersitz klingelte sein Handy. Francine telefonierte von der Bushaltestelle, wo viele Menschen warteten und keine Busse fuhren. Sie hatte schon vor einer halben Stunde ihren Koffer vom Band geholt und die Ankunftshalle verlassen.
„Es ist scheißkalt in Berlin. Ich habe den ganzen Flug nicht geschlafen, bin total müde und meine Füße sind eingefroren. Wo bist du?“
„Ich komme. Hat auf der Chausseestraße einen Unfall gegeben.“
„Da kommt ein Shuttlebus zur Jungfernheide, doch es warten bestimmt hundert Leute. Da komm ich nicht rein. Zero Chance.“
„Macht nichts. Bin gleich da.“
Warum log er hier, dass sich die Balken bogen? Er würde nie und nimmer gleich da sein. Wie um alles in der Welt sollte er in nützlicher Frist über diese Kreuzung kommen? Ein festgezurrter Knoten mitten in einem lebenswichtigen Fluss. Seine Francine stand mit eingefrorenen Füssen keine acht Kilometer von ihm entfernt und er saß sich an dieser verdammten Kreuzung den Arsch platt. Diese ganze Stadt war eine verdammte Hölle. Hatten die Idioten da draußen denn nichts Besseres zu tun, als genau diese Kreuzung lahmzulegen? Er ließ die Scheibe herunter. Kälte schwappte von links an seinen Kopf. Lärm und Abgase. Schnell drückte er die Scheibe wieder hoch.
Im Radio dudelte die Dresdener Staatskapelle etwas von Bruckner. Der Moderator gratulierte Christian Thielemann zu seinem 60. Geburtstag. Niemand traute sich zu hupen. Auch schreien nützte nichts. Was machten all diese Polizisten hier? Herumstehen. Tut doch endlich was, verdammt noch mal. Macht doch was mit diesem verdammten Verkehr. Unter der Wärmedecke bewegte sich etwas. Zum Glück. Zwei Notfallsanitäter in grellfarbigen Overalls brachten eine Bahre. Endlich. Der dunkelblaue Volvo fuhr im Schritttempo los und im Blechdurcheinander vor ihm entstand eine Gasse, durch die er, wie einst Mose auf seiner Flucht aus Ägypten, entkommen konnte. Auf der Ellen-Epstein-Straße schaltete er in den vierten Gang und gab zum ersten Mal richtig Gas. Francine, ich komme!
Rechts in die Beusselstraße und im Schritttempo auf den Saatwinkler Damm. Noch vier Kilometer bis Tegel Airport. Er schaute auf die Uhr. Viertel nach zehn. Seit über zwei Stunden kämpfte er sich tapfer durch widrige Umstände. Die Straße, entlang des Schifffahrtskanals, schien endlos und nach einer weiteren Stunde extremster Drosselung ging gar nichts mehr. Die Taxis und die Ortskundigen, die aus der stehenden Kolonne ausscherten, drängten weiter vorne wieder hinein und was für die hinten Stehenden, wie erlösende Bewegung aussah, war bloß ein Drängen und Drücken von Abtrünnigen zurück zur Herde.
Stehender Stau. Er traute sich kaum noch zur Uhr zu schauen.
Noch ungefähr zwei Kilometer bis zum Flughafen. Was tun? Francine harrte schon seit drei Stunden in der Kälte aus und wartete auf seine Hilfe. „Sieht aus wie nach dem Weltuntergang hier. Seit einer Stunde kein Auto, kein Taxi, kein Shuttlebus. Alles wie ausgestorben,“ meldete sie.
„Halte durch. Ich komme.“ Das war nicht seine Stimme. Da presste jemand Töne in ein elektronisches Kästchen, mit der Absicht Hoffnung zu verbreiten, doch diese Pressworte verbreiteten keine Hoffnung, nein. Sie klangen wurstig und verdrückt, irgendwie unverdaulich. Er schwitzte, zerrte an seiner Daunenjacke herum, während er versuchte sein Handy zwischen Kopf und Schulter festzuklemmen.
„Wo bist du denn?“
„Kurz vor dem Flughafen, aber es ist ziemlich Stau hier. Vielleicht wäre es doch gut, wenn du dich für einen Shuttlebus anstellst.“
„Mach ich doch schon die ganze Zeit. Kommt aber keiner.“
„Halte durch. Ich bin fast da.“
Aber wie, verdammt?
Die Prinzessin in Gefahr und er, der rettende Ritter mit dem wehenden Haar, steht im Stau. Sein feuriger Hengst scharrt wild mit den Hufen und kommt nicht vom Fleck. Draußen schien die Sonne, an den Bäumen erste winzige Blattknospen und im Radio Wagners Götterdämmerung und wieder dirigierte Christian Thielemann an seinem 60. Geburtstag. Da war irgendwo noch ein anderer Lärm. Aber wo? Das Gehäuse seines schwarzen Fiat Pandas dröhnte und vibrierte, als versuche er mit Bleifuß im Leerlauf die alte Kiste zum Abzuheben zu bringen. Langsam und unauffällig entspannte er seinen rechten Fuß und lockerte die verkrampften Hände. Niemand schien seinen dröhnenden Ausbruchsversuch bemerkt zu haben. Sämtliche Chaospiloten in seinem Umfeld starrten stur geradeaus. Warum ging hier, verdammt nochmal, nichts vorwärts. Nichts, nichts, nichts. Seit Stunden passierte hier nichts. Am Kanalufer kamen immer mehr Menschen mit Rollkoffern. Er musste unbedingt etwas tun.
Jetzt, sofort!
Aber was?
Umdrehen?
Heulen?
Fluchen?
Aus der Haut fahren?
Mit einem Anflug von Panik betrachtete er die weißen Knöchel am Lenkrad, die im Affekt irgendeinen dieser Idioten auf der Stelle erwürgt hätten. Mit letzter Kraft bändigte er sein ausuferndes Chaos, sein Blick suchte nach Halt und plötzlich sah er sie, die Lücke, zwei Autolängen vor ihm am Straßenrand. Sie war ihm bisher nicht aufgefallen, obwohl er seit einer halben Stunde hier stand. In der Stille einer abflauenden Panikwelle entpuppte sich die Lücke als stiller Rettungsanker inmitten eines apokalyptischen, für alle Ewigkeit eingedickten Straßeninfernos. Nur noch drei Meter. Nur noch zwei. Ein weißer BMW, so groß wie ein Haus, versperrte den Weg. Eine Viertelstunde standen sie so, der kleine Fiat hart an der Flanke des Großen und keiner konnte sich auch nur einen Millimeter bewegen. Zum Glück saß eine Frau am Steuer. Ein Mann hätte wohl die Knarre gepackt, den Patronengürtel umgeschnallt und den lästigen Winzling weggepustet. Endlich, die erlösenden fünfzig Zentimeter. Er zwängte seinen Wagen in die minimale Parklücke, stieg auf der Beifahrerseite aus und schloss sich den andern an.
Endlich, der schwarze Hengst schnaubt erleichtert auf und prescht los. Weite Prärie. Fliegendes Mähnenhaar im Wind.
Männer mit schweren Koffern, Frauen mit ihren alten Eltern, Großmütter mit ihren Enkeln, Musiker und Surfer, schreiende Kinder. Alle auf dem Weg zu ihrem Flug, als wären sie auf der Flucht. Ein übergewichtiger Mann in Anzug und Krawatte hetzte mit hochrotem Kopf zwischen Bäumen unten am Wasser entlang.
Im Wechsel zwischen Laufschritt und schnellem Gehen kurvte er zwischen Rollkoffern und gemütlich plaudernden Frauen. Trotz Sonnenschein war es empfindlich kalt. Endlich die Brücke über den Kanal und in der Ferne der Kontrollturm der Flugüberwachung. Die Polizei hatte die Kreuzung vor der Brücke gesperrt, versuchte das motorisierte Chaos in geregelte Bahnen zu lenken. Mitten in den verkeilten Fahrzeugen stand ein leerer Shuttlebus zur Jungfernheide. Im Fußgängertunnel, der zu normalen Zeiten wohl kaum benutzt wurde, herrschte reger Betrieb. Drängende Menschenmaßen verstopften den einzig möglichen Personendurchgang zum Flughafen. Überholen war unmöglich. Koffer hatten sich ineinander verkeilt. Das Gebrüll bärtiger Männer hallte durch die Betonröhre, Kinder weinten. Ohne Gepäck kam er besser voran, als die Väter mit ihren Kleinsten in der einen und einem Koffer in der anderen Hand. Ein Mädchen hielt ihren Teddy fest, als wäre er in Gefahr.
Die Treppe hoch zum Terminal A. Eine Großmutter mit Kopftuch steckte auf der untersten Stufe mit ihrem Koffer fest. Er packte das tonnenschwere Teil und wuchtete es hoch, ohne sich um das Geschrei der Alten hinter sich zu kümmern, ließ den Koffer stehen und rannte weiter. Auf der oberen Plattform traf er auf eine beeindruckende Menschenschlange, bestimmt dreihundert fröstelnde Passagiere, die auf einen Transport in die Stadt warteten. Mitten im kollektiven Ausharren hob Francine die Arme und winkte ihm zu. Sie wartete mit ihrem riesigen Koffer direkt an der Haltestelle des Shuttlebusses zur Jungfernheide. Ihre Hände und Lippen waren eiskalt. Der Koffer mit Ledermustern, Prospekten, Büchern, Werbematerial war schwer wie ein Fels. Er löste ihn aus seiner Verankerung, die Rollen knackten, als würden sie im nächsten Moment abbrechen und sie machten sich auf den Weg. Viele gehetzte und verzweifelte Menschen kamen ihnen entgegen, eine Völkerwanderung zur Abflughalle. Einige wenige lachten, als ginge es darum, in schwierigen Situationen erst recht lustig zu werden. Nach dem Tunnel kehrte die Wärme in Francines Hände zurück und auf der Brücke umarmten sie sich.
Der Schwarze Hengst schnaubt unternehmungslustig hinter ihnen.
Mit seiner Hilfe würden sie auch die letzte halbe Stunde bis zum Auto noch schaffen.